Katharina Oder

 „Das Leben beginnt, schwillt an,
niemand weiß, wohin es geht“

Hans Christian Andersen (Dryade)

… der junge Kastanienbaum hörte alles mit an; die Dryade, die in seinen Zweigen wohnte und die ja noch ein Kind war, konnte zurückdenken bis zu der Zeit, wo der Baum so klein war, dass er nur ein wenig über die hohen Grashalme und Farnkräuter aufragte. Die waren schon so groß, wie sie werden konnten, aber der Baum wuchs und nahm mit jedem Jahr zu, trank Luft und Sonnensein, bekam Tau und Regen und wurde, was notwendig war, von den starken Winden gerüttelt und geschüttelt. Das gehört mit zur Erziehung.
Die Dryade freute sich ihres Daseins, freute sich über den Sonnenschein und den Vogelgesang, am meisten aber über die Stimme der Menschen, sie verstand ihre Sprache ebenso gut, wie sie die der Tiere verstand. Schmetterlinge, Libellen und Fliegen, ja alles, was fliegen konnte, stattete ihr einen Besuch ab; plaudern konnten sie alle; sie erzählten von dem Dorf, den Weinbergen, dem Walde, dem alten Schloss mit seinem Park, in dem Kanäle waren und Teiche. Dort unten im Wasser wohnten auch lebende Wesen, die auf ihre Weise, unter dem Wasser, von Ort zu Ort fliegen konnten, Wesen mit Kenntnissen und Nachdenken; sie sagten nichts, so klug waren sie.

„Die Baumnymphe zieht es von ihrem naturgegebenen Platz in die Großstadt, sie muß jedoch dafür mit ihrem Leben bezahlen. Urbanität wird mit Un-Natur assoziiert, mit Rastlosigkeit, Wurzellosigkeit, moralischem Verderben, sündiger Lasterhaftigkeit – in letzter Instanz: Gottlosigkeit.“
..so wird Hans Christian Andersen gern interpretiert, jedoch ist es wie mit allen Märchen – sie interagieren mit der Gegenwart und erlauben immer neue Lesearten, neue Erkenntnisse.

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